Lebenswelten im Schwäbischen Barockwinkel

Lebenswelten im Schwäbischen Barockwinkel. Quellen – Forschungen – Potentiale

Organisatoren
Historischer Verein Günzburg e.V.
Veranstaltungsort
Kloster Wettenhausen
PLZ
89358
Ort
Wettenhausen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
14.09.2023 - 15.09.2023
Von
Markus M. Böck, Institut für bayerische Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Der Historische Verein Günzburg begrüßte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Bereich der Kunst-, Geschichts- und Kulturwissenschaften im Kloster Wettenhausen. Dieser nahe Günzburg im Kammeltal gelegene Barockbau erwies sich als idealer Austragungsort für die Tagung. Die interdisziplinär konzipierten Vorträge beleuchteten das Phänomen Barock aus kunsthistorischer, historischer, musikwissenschaftlicher, theologischer sowie philosophischer Perspektive und stellten die Bedeutung des barocken Erbes für die Gegenwart heraus.

Zu Beginn der Vorträge boten die beiden Organisatoren RAPHAEL GERHARDT (Günzburg) und MARKUS MÜLLER (München) eine Einführung in das Tagungsthema. Zunächst stellte Müller als Historiker aktuelle Kontroversen der Barockforschung vor. Dabei zeigte er die Problematik des Begriffes als eigenständige Epochenbezeichnung auf und arbeitete die Mehrdimensionalität des Barock im Kontext von Aufklärung, Renaissance und Humanismus heraus. Er resümierte, dass der Barock als integrativ und europäisch bezeichnet werden könne, weil der Begriff verschiedene Dimensionen in (scheinbarer) Ambiguität enthalte und zugleich länderübergreifende Vergleiche gezogen werden können. Außerdem biete gerade die kontrovers geführte Diskussion über den Epochenbegriff Potenzial für neue Fragen und Ansätze. Der Günzburger Stadtarchivar und Museumsleiter Gerhardt wagte daraufhin den Versuch einer räumlichen Annäherung an den Begriff „Schwäbischer Barockwinkel“. Seine Recherchen ergaben, dass dessen Verwendung eng mit der Person Georg Simnacher verknüpft ist, der als Landrat des Landkreises Günzburg den Begriff im Jahr 1984 einführte, um die Region attraktiver für den Tourismus zu gestalten. Anklänge zum oberbayerischen „Pfaffenwinkel“ scheinen dabei nicht zufällig gewählt. Es sei zutreffend, dass dieser Teil Mittelschwabens eine außergewöhnlich hohe Zahl an barocken Baudenkmälern besitzt, weshalb die Bezeichnung seine Berechtigung habe. Die Beschäftigung auch mit diesem Untersuchungsgebiet erscheine methodisch deshalb ertragreich, weil dieser die Lebenswelt im Zeitalter des Barock weitestmöglich abbilden könne. Denn dieses umfasst trotz oder sogar aufgrund seiner territorialen Begrenztheit alle Ebenen der Gesellschaft, da es ländliche, städtische und klösterliche Realitäten zeige und so ein Gesamtbild des barocken Mittelschwabens schaffen könne.

Die Archivarin im Bayerischen Hauptstaatsarchiv SARAH HADRY (München) verglich die Herrschaftspraxis der schwäbischen Reichsstifte Elchingen und Roggenburg mit derjenigen der altbayerischen Klöster Ettal und St. Nikola-Passau. Ein Fokus lag dabei auf den urkundlich gut greifbaren herrschaftlichen Rechten, welche die Bedeutung der Klöster als Verwaltungszentren im Alten Reich aufzeigten. Im zweiten Vortrag stellte die Archivarin CLAUDIA KALESSE (Augsburg) weniger bekannte Quellen aus dem „Schwäbischen Barockwinkel“ vor, die im Staatsarchiv Augsburg verwahrt sind. Die massive Bautätigkeit nach dem Dreißigjährigen Krieg ist darin besonders gut bezeugt. Am Beispiel des Damenstifts Edelstetten und des Gymnasiums in Dillingen zeigte Kalesse wie Archivalien Einblick in das Leben im Barock geben können. Als Veränderung, die speziell für diese Zeit zu konstatieren sei, stellte sie das Anwachsen der schriftlichen Überlieferung aufgrund der Professionalisierung und Ausdifferenzierung von Verwaltungshandeln heraus.

Auf diesen eher verwaltungshistorischen Zugang folgten in der zweiten Sektion stärker lebensweltlich ausgerichtete Beiträge. Im ersten Vortrag sprach JOHANNES PIETSCH (München), Referent für Textilien im Bayerischen Nationalmuseum, über Kleidung im Barock. Zunächst konstatierte Pietsch, dass für Schwaben einige ausgezeichnete Arbeiten zur wirtschaftlichen Bedeutung der Leinenherstellung für die Region erschienen seien. Die Textilien selbst bedürfen dagegen stets einer Interpretation, da nicht immer klar ist, was auf welche Weise und von wem getragen wurde. Deshalb seien Kleidungsstücke in der Forschung bisher weniger berücksichtigt worden. Gemälde oder Fresken geben hier Hilfestellung, was am Beispiel der Hutmode für Damen gezeigt wurde. In der Diskussion wurde insbesondere die Bedeutung der „teuschen Mode“ für die Identitätsbildung in der Frühen Neuzeit herausgestellt. Der Leiter des Fuggerarchivs STEFAN BIRKLE (Dillingen) schloss in seinem Vortrag an Zeugnisse aus barocken Lebenswelten an, indem er Archivalien aus den mittelschwäbischen Besitzungen dieser einflussreichen Augsburger Handelsfamilie vorstellte. Beispielsweise geben die Rechnungen zur Wallfahrtskirche Maria Schnee einen direkten Einblick in die Vorgänge auf barocken Baustellen. Es lässt sich nachweisen, dass der örtliche Pfarrer dem Architekten beratend zur Seite stand oder dass die Zinslosigkeit des Kredites bewusst zugunsten des Wallfahrtbetriebes ausgenutzt wurde. Den Abschluss der zweiten Sektion bildete der Vortrag des Historikers PEER FRIEß (Zorneding). Er stellte eine Untersuchung des Gesundheitssystems und der Behandlungsmethoden der Frühen Neuzeit am Fall der schwäbischen Reichsstadt Memmingen und ihrer medizinischen Beziehungen zum Umland vor. Seine Medizingeschichte im landeshistorischen Zugriff, die er anhand des Berichtes eines Arztes veranschaulichte, macht deutlich, was es für einen Menschen zur Zeit des Barock bedeutete, unter einer Krankheit zu leiden und welche Unterschiede sich dabei aus der Konfession ergaben. Die Behandlungsmethoden erscheinen dabei im Kontrast zur neuen, auf Effektivität ausgerichteten Wissenschaft der Aufklärung zu stehen.

Den ersten Tag beschloss eine öffentliche Podiumsdiskussion im Kaisersaal des Klosters Wettenhausen, die sich um Chancen und Herausforderung im Umgang mit dem barocken Erbe drehte. Auf das Podium begaben sich Dekan KLAUS BUCHER (Breitenthal), der als Vertreter des Bauträgers Kirche zahlreiche Restaurierungsarbeiten barocker und klassizistischer Kirchen begleitet hat, HUBERT HAFNER (Wettenhausen), der Leiter der „Kloster Wettenhausen Entwicklungs gGmbH“, sowie SIMONE HARTMANN (Thierhaupten), die im Bayerische Landesamt für Denkmalpflege unter anderem für den „Schwäbischen Barockwinkel“ zuständig ist, und MARTIN KNOLL (Salzburg), der als Professor an der Paris-Lodron-Universität mit einem Schwerpunkt auf die Geschichte des Tourismus forscht. Dabei wurde rege über den Barock als Tourismusmagnet diskutiert, wobei sowohl auf Erfahrungen der letzten Jahrzehnte als auch auf Perspektiven und Zukunftsfähigkeit dieses Wirtschaftsfaktors eingegangen wurde. Eine bedeutende Rolle spielen nach dem Urteil der Disputanten die Geschichten, die mit den Orten verbunden werden können. Denn durch dieses narrative Moment werden Denkmäler lebendig und erschließen neue Potentiale des immer wichtiger werdenden Erlebens eines Ortes. Hafner resümierte, dass auch diese Tagung einen Beitrag zur historischen Erschließung dieser Lebenswelten leistet.

Am nächsten Tag wurde die Vortragsreihe in der dritten Sektion fortgesetzt. Den Auftakt machte der Augsburger Landeshistoriker RAINALD BECKER (Augsburg), der zu Bildungslandschaften in der Frühen Neuzeit forscht und diese am Beispiel konkreter Personen, Institutionen sowie zu jener Zeit verbreiteter wissenschaftlicher Konzepte und Ideen ausführte. Für Schwaben arbeitete er drei Entwicklungslinien bei der Herausbildung einer Bildungslandschaft heraus: Zum einen den Übergang von reichsstädtischen Schulen zu universitären Strukturen nach europäischem Vorbild, der sowohl von Kontinuität als auch von Expansion zeuge. Zum anderen gehe damit eine Internationalisierung des Bildungskosmos durch Vernetzung einher, wobei auch schwäbische Institutionen überregionale Ausstrahlungskraft entwickelten. Nicht zuletzt nannte er als dritten Punkt die parallel dazu laufende Ausbildung von Wissensspeichern in Form von Bibliotheken und Druckereien. An letzteren Punkt setzte der Vortrag von MARIUS MÜLLER (Dillingen) an, der die Studienbibliothek Dillingen leitet. Er fokussierte sich auf die Universität Dillingen, die sich in der Frühen Neuzeit auf dem Tableau der europäischen Hochschullandschaft behaupten konnte. Um der Reformation im katholischen Bistum Augsburg auch auf intellektueller Ebene begegnen zu können, gründete Fürstbischof Otto Kardinal Truchseß von Waldburg (1514–1573) 1549 eine umfangreiche Studienbibliothek, deren Bestände einen tiefen Einblick in die Geistesgeschichte des Barock geben. An ausgewählten Beispielen gelang es ihm, das große Forschungspotential der circa 194.000 dort verfügbaren Titel aufzuzeigen. Beide Vorträge führten zu der Frage, ob von einer spezifisch barocken Bildung oder lediglich von Bildung im Zeitalter des Barock gesprochen werden könne, was Inhalt größer angelegter Studien werden könnte. Den dritten Vortrag dieser Sektion präsentierte CHRISTIAN LEITMEIR (Oxford), der an der Universität Oxford mit einem Schwerpunkt in frühneuzeitlicher Musikwissenschaft forscht und lehrt. Er diskutierte, in welchem Verhältnis die Musik des Barock zu den schwäbischen Klöstern stand und ob diese lediglich als Aufführungsstätten dienten oder als wesentliche Entstehungsorte auch neuer Musikgattungen zu betrachten seien. Dabei wies er darauf hin, dass Musik grundsätzlich ein performatives Phänomen ist und durch den Vollzug lebe. Zu Zeiten, in denen Tonaufzeichnungen noch nicht möglich waren, war Musik in besonderer Weise unverfügbar. Zugriff erhalten wir lediglich über die Musikhandschriften, die deutlich machen, dass das Aufkommen des italienischen Barock in Schwaben untrennbar mit dem kirchlichen Kontext verbunden ist. Dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts das musikalische Niveau qualitativ stark sank, sei eine Wirkung der gewaltvollen Auflösung der Klöster während der Säkularisation und ein Indiz für die große Bedeutung dieser Orte für die Musik. Als vierter und letzter Referent dieser Sektion sprach der Ethnologe DANIEL DRASCEK (Regensburg). Er stellte die für die Erforschung von Lebenswelten zentrale Quellengattung der Tagebücher vor, die als Ego-Dokumente einen tieferen Einblick in die Gedankenwelt von Personen geben. Anhand des Tagebuches des Elchinger Benediktinerpaters Joseph Traber und weiterer Texte diskutierte Drascek Zugänge zur Erforschung einer barocken Emotionskultur. Außerdem bot er Einblicke in die Festkultur, die, wie gezeigt werden konnte, weniger opulent ausfiel als so manches Klischee über die schwäbischen Prälatenklöster es vermuten ließe.

Als erster Redner der vierten Sektion sprach ULRICH LEINSLE (Schlägl), emeritierter Regensburger Theologiehistoriker, dem es gelang, die Charakteristika der Scholastik der Frühen Neuzeit herauszuarbeiten. Diese beschäftigte sich intensiv mit der Ekklesiologie sowie der Sakramentenlehre und wurde stärker als Kommentierung und Weiterentwicklung der Werke des Thomas von Aquin verstanden. Den Einfluss dieser Philosophie auf die Volksfrömmigkeit hält Leinsle für gering. Breite Teile der Bevölkerung und auch des Landklerus lasen eher Betrachtungsbücher, Sonntagskatechesen und Predigtwerke, von denen er einige bis ins 20. Jahrhundert prägende Beispiele vorstellte. Am Ende der Tagung stand der Beitrag des Kunsthistorikers † BERNHARD SCHÜTZ (München), der sich in zahlreichen Studien mit der Architektur der Barockzeit beschäftigt hatte, doch überraschend am 26. März 2023 in Wien verstorben war. In seinem von ihm bereits verschriftlichten Beitrag stellte er die Frage, ob ein vom Barock unterscheidbarer Baustil des Rokoko existiere. Denn über die Merkmale letzterer meist als etwas verspielter wahrgenommener Kunstepoche wird in der Kunstwissenschaft intensiv diskutiert. Schütz zeigte, dass in fast allen süddeutsch-bayerischen Kirchen, die dem Rokokostil zugeordnet werden, neben der Rocallie als Ornamenttypus auch alle Regeln einer streng rhythmisierten Tektonik eingehalten würden. Lediglich die Bauwerke Dominikus Zimmermanns lösen diese zugunsten des Dekors auf und wären so im engeren Sinn als Rokoko zu bezeichnen. Der Zenit dieser Stilrichtung sei mit diesem Architekten erreicht gewesen. Außerdem ging Schütz auf die identitätsstiftende Wirkung des Rokoko für Altbayern und Schwaben ein, die nur durch gemeinsame Anstrengungen der Ortsgemeinden möglich war, was wiederum die große Bedeutung dieses Baustils für die Lebenswelten der Frühen Neuzeit im süddeutschen Raum zeigt.

In der Abschlussdiskussion wurden zentrale Erkenntnisse der gesamten Tagung gesammelt. Es wurde gefragt, ob die selten explizit gemachte, häufig aber grundgelegte Allianz von Katholizität und Barock notwendig sei, insbesondere wenn daraus abgeleitet katholische von protestantischen Lebenswelten unterschieden würden. Die Architektur, Musik und Kunst des Barock lade zum Erleben ein und sei deshalb, wie gezeigt werden konnte, nah an der Lebenswelt und Frömmigkeit der Menschen jener Zeit. Die vorgestellten Quellen bilden Situationen ab, innerhalb derer Akteure, Orte und Institutionen in ihrer Lebenswelt analysiert werden können. Außergewöhnlich hohe Bedeutung müsse in der Barock-Forschung der Materialität zugemessen werden, die einen interdisziplinären Zugang, wie ihn diese Tagung gewählt hat, ertragreich mache.

Als Abschluss der Veranstaltung beschäftigten sich die Teilnehmer mit dieser Materialität des Barock, indem sie durch die Klosteranlage von Wettenhausen geführt wurden und dabei auch das örtliche Klostermuseum besuchten. Der Publikation des begleitenden Sammelbandes ebenso wie den geplanten Folgetagungen kann nun erwartungsvoll entgegengeblickt werden.

Konferenzübersicht:

Raphael Gerhardt (Günzburg) / Markus Müller (München): Begrüßung

Einführung in das Thema

Markus Müller (München): Barockforschung und Regionalgeschichte

Raphael Gerhardt (Günzburg): Der Schwäbische Barockwinkel. Versuche einer räumlichen Annäherung

Sektion I
Moderation: Dietmar Schiersner (Weingarten)

Sarah Hadry (München): Klösterliche Herrschaft im Vergleich (16.–18. Jh.). Die schwäbischen Reichsstifte Elchingen und Roggenburg und die altbayerischen Klöster Ettal und St. Nikola-Passau

Claudia Kalesse (Augsburg): Schwäbischer Barockwinkel. Bedeutende und weniger bekannte Quellen im Staatsarchiv Augsburg

Sektion II
Moderation: Maria Weber (Freiburg im Breisgau)

Johannes Pietsch (München): Kleidung und Textilien in Schwäbischen Barockwinkel

Stefan Birkle (Dillingen): Barocke Spuren in den Beständen des Fuggerarchivs

Peer Frieß (Zorneding): „Krankheiten und ihre Cur.“ Die alltägliche Sorge um die Gesundheit im Barock

Podiumsdiskussion. Barock und Tourismus in der Region

Grußworte: Landrat Hans Reichart (Günzburg), Stefan Baisch (Günzburg)

Moderation: Raphael Gerhardt (Günzburg) / Markus Müller (München)

Teilnehmer: Klaus Buchner (Breitenthal), Hubert Hafner (Wettenhausen), Simone Hartmann (Thierhaupten), Martin Knoll (Salzburg)

Sektion III
Moderation: Christoph Lang (Augsburg)

Rainald Becker (Augsburg): Barocke Bildungslandschaften in Schwaben. Ideen – Institutionen – Personen

Marius Müller (Dillingen): Der schwäbische Barock und die Bestände der Studienbibliothek Dillingen

Christian Leitmeir (Oxford): Barockmusik in schwäbischen Klöstern oder schwäbische Klostermusik im Barockzeitalter? Eine kritische Bestandsaufnahme

Daniel Drascek (Regensburg): „Da hätte einer gesehen, wie mir die Härrle gen Berg gestanden.“ Barocke Tagebücher des Klosters Elchingen und die Herausforderungen einer modernen Emotionskulturforschung

Sektion IV
Moderation: Britta Kägler (Passau)

Ulrich Leinsle (Schlägl): Theologie und Volksfrömmigkeit im schwäbischen Barock

† Bernhard Schütz (München): Gibt es eine eigenständige vom Barock unterscheidbare Rokokoarchitektur?

Abschlussdiskussion
Moderation: Britta Kägler (Passau)

Führung durch die Klosteranlage von Wettenhausen